Lasst uns träumen und unsere Träume leben
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Es ist früh am Morgen, und ich wache auf – nicht perfekt, aber ausreichend Schlaf. Der Tag beginnt, wie so oft, mit dem Chaos einer Familie, die sich fertig macht: meine Frau, unsere beiden Teenager und unsere Jüngste, sie ist acht Jahre alt. Heute nehme ich das jüngste Kind meiner Nachbarin mit. Sie ist sieben Jahre alt, lebt mit Trisomie 21 und hat ein strahlendes Lachen, das selbst die müdesten Tage erhellen kann. Ihre Mutter, eine Belegshebamme, und hat heute wieder mal einen Dienst übernommen.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Der Bildungscampus, wie es heute heißt, liegt nur wenige Minuten entfernt und ist gut erreichbar. Wir bringen die Kinder zur Schule, in den Kindergarten. Ich öffne die Tür und werde direkt vom warmen Duft von Kaffee begrüßt.
Ein großes, gemütliches Café erstreckt sich vor uns. Es ist voll von Menschen, groß und klein, die sich verschlafen, aber herzlich begrüßen. Manche frühstücken, andere spielen Brettspiele oder plaudern – Kinder, Teenager, Erwachsene, auch mit grauen Haaren. Es gibt keine scharfen Trennlinien, sondern ein ständiges Miteinander. Ein junger Mensch bringt mir einen Tee, genauso, wie ich ihn mag. Ich lächle und denke: Es ist richtig nett hier.
Das Kind meiner Nachbarin beginnt zu weinen, doch bevor ich reagieren kann, eilt unser 15-Jähriger herbei, spricht beruhigend auf die Kleine ein und nimmt sie auf den Arm. Solche Momente zeigen mir, dass dieser Ort anders ist: Hier kümmern sich alle, unabhängig vom Alter, um einander.
Und dann um 9:00 gehen wir in die Arbeit. Die Kinder gehen in die Schule bzw. den Kindergarten.
Keiner hat den Ort verlassen.
Wir Eltern und Coworker:innen setzen uns mit den Kindern und Jugendlichen im Morgenkreis zusammen. Gemeinsam planen wir den Tag: Wer tut was, mit wem, und was wird gebraucht? Es ist eine tägliche Übung in Zusammenarbeit, Mitbestimmung und Fürsorge.
Dieser Ort, Colearning Wien, vereint das, was sonst so oft getrennt ist: Lernen, Arbeiten und Alltagsleben. Es ist eine Community, die sich bewusst gegen die üblichen Trennlinien stellt. Hier sind Bildung, Arbeit und Care-Arbeit keine isolierten Welten.
Nach dem Morgenkreis setze ich mich in einen großen Raum, wo einige Menschen still arbeiten, und beginne, an einem Blogeintrag zu schreiben. Es geht um sogenannte Commons und Care Communities – Modelle, die uns helfen können, Trennwände zwischen Menschen und Lebensbereichen abzubauen. Ich denke an unsere Gesellschaft, die ich mir immer wie eine Schuhschachtel vorstelle: voller kleiner Abteile.
Frauen mit Babys bleiben zu Hause, ältere Menschen in Pflegeheimen, Kinder in strikt nach Altersgruppen getrennten Kindergärten und Schulen. Menschen mit Behinderungen arbeiten oft in Werkstätten, abgeschottet von der restlichen Welt. Diese künstlichen Sonderräume schränken uns alle ein. Sie trennen uns von einander und nehmen uns Ressourcen weg – soziale Ressourcen, Freude, Unterstützung.
Zusätzlich zur Trennung kommt die Überforderung durch die Kleinfamilie. Was als Paar oder Single noch funktioniert, wird kompliziert, wenn Kinder, kranke Angehörige oder Menschen mit Behinderungen dazukommen. Care-Arbeit fällt oft unter den Tisch, weil wir sie in unserer Work-Life-Balance einfach nicht einplanen. Dabei sollte es eine Work-Life-Care-Balance sein.
Mit Geld lässt sich manches lösen – Betreuung, Haushaltshilfen, Pflege – aber wer kann sich das leisten? Und wer wird dabei wieder ausgebeutet? Die Standardlösung lautet oft: Frauen in Vollzeitberufe, Kinder in die Vollbetreuung. Aber macht das wirklich alle glücklich? Wieviel Zeitarmut entsteht dadurch wieder und wann begegnen wir uns, uns selbst, Familie und Freunden?
Hier im Colearning Wien haben wir versucht, diese Fragen anders zu beantworten. In den letzten zehn Jahren haben wir ein gemeinschaftliches Projekt aufgebaut, in dem wir Trennwände abbauen und Alltagsleben neu denken. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind an einem Ort und gehen hier ihren Bildungs- und Arbeitsaufträgen nach. Wir teilen Ressourcen, überschneiden unsere Welten und leben flache Hierarchien.
Klingt gut, oder? Aber natürlich bringt es Herausforderungen mit sich. Wenn die gewohnte Ordnung – Trennung, unsichtbare Care-Arbeit von Frauen, Erwerbsdruck, Hierarchien – wegfällt, entsteht zunächst was? Chaos. Chaos, das wir durchlaufen müssen, um zu verstehen, wie wir zusammenarbeiten können. Es ist ein Prozess des Verlernens, Umlernens und Neulernens.
Am Nachmittag werde ich in der Schneiderwerkstatt sitzen und mit Hilfe meiner Kollegin meine Lieblingsjacke reparieren. Ich bin nicht besonders geschickt darin, aber hier hilft man einander. Später mache ich mit interessierten Teenagern die Buchhaltung für die Foodcoop.
Das mag für viele wie eine Utopie klingen, aber für uns ist es der Versuch eines anderen Alltags – eines Alltag, der uns lehrt, wie viel Potenzial in echten Gemeinschaften steckt. Es ist ein Weg, den wir immer wieder neu erfinden müssen, aber er lohnt sich. Denn es geht nicht nur darum, wie wir arbeiten oder lernen, sondern darum, wie wir leben.